Das Interdisziplinäre Labor – Teil 3/4
Die Entstehung von Therapieresistenzen ist der Hauptgrund für das Scheitern von Krebstherapien. Heilungen werden in den meisten Fällen bei Patienten erzielt, die mit einer lokalisierten Erkrankung diagnostiziert werden und durch chirurgische Behandlung, häufig in Kombination mit Bestrahlung und einer sogenannten adjuvanten Arzneimitteltherapie, vollständig entfernt werden. Wenn sich die Krebserkrankung bei Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose bereits im Körper ausgebreitet (‚metastasiert‘) hat und bei Blutkrebs (Leukämien und Lymphome), sind systemische Therapien notwendig, die häufig die Überlebenszeit und die Lebensqualität verbessern, aber selten zur Heilung führen. Obwohl die Heilungsraten bei kindlichen Krebserkrankungen höher als bei Krebserkrankungen bei Erwachsenen sind, gibt es auch hier immer noch einen großen Anteil von Patienten, die nicht geheilt werden können.
Grundsätzlich gibt es zwei Arten der Resistenz bei Krebs: 1) die intrinsische Resistenz, bei der die Krebszellen von vornherein überhaupt nicht auf die verfügbaren Therapien ansprechen, und 2) erworbene Resistenzen, die sich nach einem initialen Therapieansprechen ausbilden und zum Therapieversagen und Tod des Patienten führen.
Erworbene Resistenzen sind wesentlich schwerer zu untersuchen, da die Resistenzentwicklung die Konsequenz eines komplexen Evolutionsprozesses ist. Um das Verständnis dieser Mechanismen zu verbessern, sind Modellsysteme notwendig, die den Prozess der Resistenzentwicklung abbilden. Allerdings ist alleine die Etablierung solcher Modelle für erworbene Resistenzen sehr zeit- und arbeitsaufwändig. Die Etablierung einer einzigen resistenten Zelllinie kann ein Jahr oder länger in Anspruch nehmen. Dieser Aufwand führt dazu, dass es traditionell sehr wenige Modelle für erworbene Resistenzen bei Krebs gibt.
Dieser Lücke haben sich Prof. Jindrich Cinatl und Prof. Martin Michaelis in ihrer Arbeit systematisch angenommen und im Laufe der Jahre die Resistant Cancer Cell Line (RCCL) Collection aufgebaut, die weltweit bei Weitem größte Sammlung von Modellen für die Resistenzentwicklung bei Krebs. Zurzeit besteht die RCCL Collection aus 2,800 Resistenzmodellen, die Resistenzen gegenüber 16 Krebsarten und mehr als 100 antitumoralen Wirkstoffen abbilden.
Die RCCL Collection ist bereits in ihrer jetzigen Form ein vielfach nachgefragtes Werkzeug, das Forschung ermöglicht, die ohne sie nicht durchführbar wäre. Dies wird durch die mehr als 120 akademischen Arbeitsgruppen, Pharmafirmen und Biotechnologieunternehmen belegt, die mit Zelllinien der RCCL Collection arbeiten. Hierzu gehören weltweit führende akademische Kooperationspartner wie das Deutsche Krebsforschungszentrum, das Sanger Institute, das Broad Institute, das Institute for Cancer Research und das Karolinska Institutet sowie führende Pharmafirmen wie Eli Lilly, Abbvie und Servier.
Auch am Standort Frankfurt am Main ist die RCCL Collection gut vernetzt. Zu den Kooperationspartnern an der Goethe-Universität gehörten und gehören die Klinik für Kinder und Jugendmedizin, die Medizinische Klinik 2 (Hämatologie, Onkologie, Hämostaseologie, Rheumatologie, Infektiologie), die Klinik für Urologie, die Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, die Klinik für Strahlentherapie, das Neurologische Institut – Edinger Institut, das Institut für klinische Pharmakologie, das Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP, das SIP – Dr. Senckenbergisches Institut für Pathologie, das Georg-Speyer-Haus, das Institut für Pharmazeutische Technologie, und das Institut für Pharmazeutische Chemie. Darüber hinaus arbeitet das Interdisziplinäre Labor mit Merck KGaA, Darmstadt, unter Verwendung der RCCL Collection zusammen.
Mit Hilfe der RCCL Collection sind bereits zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen worden, die ohne ihre Existenz nicht möglich gewesen wären. Durch den Vergleich sensitiver Krebszelllinien mit ihren wirkstoffadaptierten Sublinien, wurde gezeigt, dass sich ein Protein namens SAMHD1 eignet, um die Therapieantwort gegenüber der Standardtherapie bei einer bestimmten Form der Leukämie (der akuten myeloischen Leukämie) vorherzusagen. Damit wird es zukünftig besser möglich sein, Therapien für akute myeloische Leukämiepatienten zielgenau einzusetzen. Einem Teil der Patienten kann die Belastung unwirksamer Therapien erspart und stattdessen eine Therapie mit erhöhter Erfolgswahrscheinlichkeit angeboten werden.
Außerdem konnten vorher unbekannte Einblicke in die Heterogenität der Resistenzentwicklungsprozesse gewonnen werden: Wenn man dasselbe System bzw. dieselbe Krebszelllinie wiederholt an denselben Wirkstoff adaptiert, weisen die entstehenden Sublinien unterschiedliche Resistenzmechanismen auf. Dies bedeutet, dass es nicht möglich ist vorherzusagen, wie sich eine Krebserkrankung in Antwort auf eine bestimmte Krebstherapie verhalten wird. Dementsprechend werden Methoden entwickelt werden müssen, um die Entwicklung der Krebserkrankung in Antwort auf Krebstherapien mittels sogenannter ‚Biomarker‘ zu überwachen und bei Versagen die Behandlung individualisiert anzupassen.
Bei der Überwachung von Krebspatienten gibt es große Fortschritte mit sogenannten ‚Liquid Biopsies‘, die es ermöglichen über Proben aus dem Blut Evolutionsprozesse in den Krebszellen in einem Patienten nachzuverfolgen. Allerdings fehlt hierbei bisher in der Regel das notwendige Verständnis, um die in den Liquid Biopsies vorhandenen Informationen so zu bewerten, dass eine zielgerechte Therapieanpassung möglich wäre. Hier kann die RCCL Collection als wichtige Brücke dienen, da die detaillierte Untersuchung der Resistenzmechanismen in den vorhandenen Modellen Biomarker identifizieren kann, die anzeigen, welche Therapie in einem bestimmten Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit wirksam sein wird. Gleichzeitig können im Rahmen solcher Untersuchungen neue Angriffspunkte zur Behandlung von Patienten entdeckt werden, deren Krebserkrankungen auf die bisher verwendeten Medikamente nicht ansprechen.
Neben den resistenten Krebszelllinien beinhaltet die RCCL Collection noch weitere exklusive Zelllkulturmodelle. Hierzu gehören chronisch Zytomegalievirus-infizierte Zelllinien. Das Zytomegalievirus ist der häufigste opportunistische Erreger bei immunsuppremierten Krebspatienten. Die Zelllinien ermöglichen die Untersuchung der Wechselwirkung dieser Viren mit (Krebs)Zellen. Außerdem wurde ein optimiertes Zellkultursystem zur Identifizierung von neuen Wirkstoffen gegen SARS-CoV-2, das Coronavirus das COVID-19 verursacht, entwickelt. Infektiöse Erkrankungen stellen eine große Gefahr insbesondere für Krebspatienten dar, die im Rahmen einer Stammzelltransplantation vorübergehend kein funktionsfähiges Immunsystem haben.